Zurück zu Papier und Bleistift?

Dieser Tage ein interessantes Gespräch, bei dem sich zeigte, wie wichtig Usability Fragen sind und wie wichtig es dabei ist, sich nicht nur theoretisch mit dem Problem auseinanderzusetzen, sondern dem späteren Anwender bei seiner Arbeit zuzusehen und alle praktischen Schritte zu erfassen.

Es ging um ein medizinisches Dokumentationssystem. Die Idee prinzipiell gut, da es die Arbeit erleichtern und die Erfassung der Daten genauer und damit alles in allem den Ablauf weniger fehleranfällig, reproduzierbarer machen sollte. Das System ist im Einsatz, wird auch genutzt, alle sind zufrieden - aber an mancher Stelle schaffen die Benutzer  Workarounds, um  Unzulänglichkeiten des Systems zu umgehen. So sollte es nicht sein. Es lohnt sich der Blick auf das ganz normale Leben und Arbeiten.

Es hatte offenbar lange gedauert, das System überhaupt zu konfigurieren. An dieser Stelle sind Fachleute am Werk, um garantieren zu können, dass alle zu erfassenden Daten auch dokumentiert werden und alle potenziellen Aufgaben theoretisch bearbeitet werden können. Dies sind jedoch die Fachleute unter den späteren Anwendern. Die Software selbst machen andere.
Irgendwann sind alle Patientenbetten mit Terminals, Tastatur und Touchscreen ausgestattet, die Eingabe neuer Parameter, die Dokumentation der Medikamentierung, das Ablesen von Laborwerten und Kurven sollte zum Kinderspiel werden.

Leider ist die Eingabe trotz eines direkt auf die Station zugeschnittenen Systems und trotz der verschiedenen Interfaces (beispielsweise dem Touchscreen) problematisch und das offenbar aufgrund der Eingabemasken.

Während man früher beispielsweise, typischerweise immer in Eile, mal schnell Abkürzungen verwenden konnte, wenn es um ein Medikament und dessen Dosierung ging, muss man nun das Medikament über eine Auswahlliste auswählen. Dies kostet unverhältnismäßig viel Zeit in einem Business, in dem genau Zeit eine zentrale Rolle spielt.

Während früher Kurven in der Akte nachgeschlagen wurden, schön groß auf Papier, sind diese nun auf einem Monitor verfügbar, der sich aber alle paar Minuten in einen Sleepmodus befördert und damit sicherlich nicht dann aktiv ist, wenn eine Menge an Ärtzen zur Visite vor dem Bett steht. Es kam daher dazu, dass das System zwar zur Erfassung genutzt wird, jedoch nicht als Informationsquelle: Hierfür macht sich der ein oder andere inzwischen händische Notizen, da dies einfacher ist als via Touchscreen das System zu bedienen und zwischen Kurven und Laborwerten zu blättern. Dazu kommt, dass das bisherige Großformat nun durch einen mittelmäßig großen Monitor ersetzt wurde.

Soweit also zur Geschichte - selbst habe ich es nicht erlebt, aber ich kann es mir lebhaft vorstellen.

Nicht nur Theorie

Das Beispiel zeigt eines ganz deutlich: es ist unzureichend, sich einfach nur die Theorie anzusehen, in dem Fall also die zu erfassenden Daten. Die waren alle berücksichtigt. Nur das Szenario der Erfassung war nicht ausreichend berücksichtigt worden. Keine Frage: das System ist sicher top, aber vielleicht wäre es realitätsnaher gegangen und vielleicht hätte es auch einen interdiszilinäreren Ansatz erfordert?

Wer es eilig hat, der möchte nicht umständlich in einer unter Umständen ellenlangen Liste suchen müssen, nochdazu, wenn die Richtigkeit der Dokumentation eine zentrale Rolle spielt. Natürlich ist auch die manuelle Eingabe mit oder ohne Abkürzungen nicht das Non Plus Ultra, denn das ist fehleranfällig, sobald die Schrift des einen oder anderen unleserlich wird - genau dafür gibt es eine Datenbank. Klar, ich hör mich da selbst als der Entwickler über sauberen Datenbestand reden… Das ist auch richtig so, nur: Der Auswahlmodus  muss an die praktischen Gegebenheiten angepasst werden - und das sind sie in diesem Fall nicht. Wir “Techniker” sehen da viel zu sehr Schema F: eine Liste mit Einfachauswahl wird so dargestellt, eine Liste mit Mehrfachauswahl so, Kontrollkästchen setzen wir hier ein und den Radionbutton da.

Hätte man sich intensiver mit dem Arbeitsalltag des Personals beschäftigt, wäre aufgefallen, dass hier viel unter Zeitdruck passiert. Man hätte sich dann für die Erfassung der Daten samt Integration einer Datenbank Eingabe- und Auswahlmodi einfallen lassen (müssen), die genau diesem Arbeiten unter höchstem Zeitdruck und höchster Konzentration gerecht werden. Sprich: das User Interface an den Benutzer anpassen und nicht den Benutzer dazu zwingen, sich mit Unzulänglichkeiten des Programms auseinanderzusetzen.

Im Lauf des Gesprächs fielen uns verschiedene Beispiele aus der realen Welt ein: Drehrädchen beispielsweise. Wie immer musste die Firma Apple herhalten - die einige gelungene Beispiele dieser Art in ihren Produkten implementiert hat. Die Idee ist exzellent und vielleicht vergessen wir sie einfach zu oft: manchmal liegen die naheliegenden Lösungen direkt vor unserer Nase, nämlich im realen Alltag. Sie können auf pfiffige Weise auch auf das Leben mit EDV übertragen werden.

Auch der fehlende Blick auf den Monitor, der Griff zurück zu Papier und Stift, sind ein solches Beispiel. Man mag nun fragen, ob es nur die liebe Gewohnheit ist, in riesigen Patientenakten zu blättern und gemeinsam Kurven zu betrachten oder ob auch da ursprünglich auch eher aus der Not eine Tugend gemacht war. So könnte man natürlich auch argumentieren, müsse man Pflegepersonal und Mediziner eben erstmal zu ihrem Glück zwingen!?
In jedem Fall scheint auf den ersten Blick die Monitorlösung optimal - hier kann man ja je nach Softwarelösung auch Kurven übereinanderlegen und im zeitlichen Verlauf vergleichen. Tolle Sache. Dass genau dies nicht genutzt wird - ein wirklicher Benefit der elektronischen Erfassung, nämlich eine verbesserte, erweiterte Sicht auf die Daten, ist nicht nur schade sondern aus meiner Sicht der Todesstoß für den Erfolg eines solchen Dokumentationssystems. Hier wären die Leute zu packen, hier läge der wahre Mehrwert. Natürlich auch hier: Software muss zum Nutzungsszenario passen, nicht umgekehrt.

Und auch hier hätte man sich die reale Welt näher anschauen können. Wie betrachten die Nutzer die Kurven auf dem Papier? Wie wird hin und her geblättert? Geht es um die Kurve, geht es ums Detail? So wäre es möglich, genau diese “Handgriffe” in die virtuelle Welt zu übertragen. Insbesondere mit Touchscreen… Auch hier liefern die mit dem Apfel einige richtig gute Ideen.

Die reale Welt…

Trotz aller Usability Predigten ist es wahrscheinlich immer noch teilweise so, dass sich die Menschen mit dem Computer und der Nutzung eines Programms anfreunden, stillschweigend “Krücken” in Kauf nehmen und eigentlich gar nicht wissen, dass das so nicht sein sollte. Natürlich haben die Konzepte und Lösungen im Lauf der Jahre “zugelegt”, wenn es um praxisorientierte Konzepte und aufgabenorientierte Anwendungen geht.Trotzdem geht da noch was.Ich behaupte mal: in anderen Belangen des täglichen Lebens würden wir einige Ärgernisse, die Software oder Websites so mitbringen, weniger willig in Kauf nehmen.

Früher waren Computer etwas für ein paar wenige Spezialisten und wenn so eine Kiste beim Rechnen Arbeit abnehmen und die Effizienz steigern konnte, dann war genau das Ziel erreicht. Dass sich der Nutzer dafür hier und da verbiegen musste, war in Kauf zu nehmen. Inzwischen ist das aber anders. Trotz allem sind Computer noch relativ neu in unserem Leben und der reale Umgang mit Papier und Bleistift präsent. Komischerweise wird vieles davon - ich erlebe das häufig auch innerhalb meiner Familie - oft kritiklos hingenommen. Geduldig wird da ein Formular zehnmal hintereinander abgeschickt, beflissen klickt man sich durch einen Endloswust an Links, um irgendwann mal umständlich zu finden, was man sucht. Auch Textverarbeitung ist eine spannende Sache (ich erinnere mich zu gut an die Arbeitsblätter für die Schule, die meine Mutter und Kollegen dann schließlich und letztendlich aus Fragmenten mit Uhu zusammenklebten, weil das mit der Nummerierung oder den Kästchen in Word nicht funktionierte)… und für alle Fälle gibt es da noch diesen dummen Spruch, dass das Problem immer vor dem Rechner säße… und damit lehnt sich der Normalanwender (verzweifelt?) zurück und nimmt zur Kenntnis, dass es nicht geht. So sollte es nicht sein.

Die Abbildung der realen Welt hat sich schon vielfach bewährt, wenn es um Visualisierung und Bedienung geht. Der Desktop, also der Schreibtisch, ist da bestimmt die bekannteste Metapher. Man kann aber noch einen Schritt weitergehen und nicht nur das “mentale Modell” metaphorisch gestalten, sondern auch die Bedienung dieser Metapher aus unserem Alltag holen. So machen das auch die mit dem Apfel und es scheint zu funktionieren und auch zu begeistern.

Warum klicken wir auf ein Ordnersymbol im Computer? Einen Ordner zieht man normalerweise aus dem Regal und klappt ihn auf. Warum klicken wir auf den Papierkorb, um ihn zu leeren? Ich kippe meinen aus. Die Bedienung eines Rechners ist heute einziges Getippe und Geklicke. Im realen Leben, da drehen wir, da drücken und ziehen wir, wir heben etwas auf uns lassen etwas fallen (okay, das gibt es schon…), wir blättern und so weiter.

Gerade was die Formulargestaltung betrifft, können wir aus der realen Welt noch einiges lernen und in die virtuelle Welt übertragen. Das würde dann nicht nur der Bedienbarkeit sondern auch der Effizienz zu Gute kommen. Eine Software, die an entscheidender Stelle vom User Workarounds erfordert, damit die Arbeit wie gewohnt passieren (was nichts mit “gefangen in alten Mustern” sondern der gelungenen Abarbeitung von Aufgaben zu tun hat) kann, erfüllt jedenfalls ihren Zweck nicht. Schlimm ist es, wenn es dem Anwender überhaupt nicht auffällt.

 

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