Die Masse macht’s

Wir sind wahrscheinlich alle werbeinfizierter, als wir uns es gerne eingestehen möchten und ich behaupte jetzt mal, das sei genau so auch auf Internet übertragbar und auf die Anforderungen und insbesondere Wunschliste, wenn es um den eigenen Webauftritt geht. Die totale Verführung!?

Web 2.0 als der Innovationsstempel, ohne den man sowieso schon hinter dem Mond lebt. Wer was auf sich hält, der bloggt, hält seinen eigenen Wiki, setzt bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit ohne Rücksicht auf Verluste auf moderne AJAX Frameworks, präsentiert sich im glossy Style und ist insgesamt total hip.

Es ist wie im täglichen Leben: die Spatzen pfeifen es von den Dächern, der Nachbar hat das Teil schon im Vorgarten, man selbst versteht zwar nicht wirklich, um was es geht, aber haben möchte man es unbedingt. Die Werbung hat gut funktioniert, der Wunsch nach dem totalen funktionalen Lifestyle Internetstyle ist voll angekommen. Schließlich hat sich jeder Webprofi dann auch notgedrungen und mit gewisser Freude mindestens einem dieser total funktionalen Systeme verschrieben - es ist wichtig, sein Handwerkszeug zu kennen!  - und wie wunderbar ist es da, wenn plötzlich alle Systeme alles erschlagen, manchmal wider jeder Vernunft. So braucht man sich nicht neu einarbeiten, so hat man immer alles im Griff.

Total trendy

Es ist meines Erachtens vollkommen klar, dass einzelne Systeme versuchen, die Wünsche potenzieller Kunden zu befriedigen -ob im Core oder als Addon. Und wenn die Konkurrenz mit einem noch so sinnlosen Gimmick aufwartet,  den die Leute aber lieben, weil sie sich gerne blenden lassen von viel zu viel dick aufgetragenem Lippenstift und der tollen Metallic-Lackierung oder aber weil es einfach ihrem Verständnis von Innovation und Zeitgeist entspricht, dann sollte es eben im eigenen System auch implementiert sein - schließlich muss man ja mit können, wenn es um das beste CMS, ums beste Framework oder um die Superlative der monatlichen Downloads geht. Und am liebsten noch dieses und jenes dazu, weil auch noch schön, weil auch noch in oder weil auch mal irgendwann praktisch.

Dass es das Fertigmenü dann auch noch Open Source gibt, diesem Konzept, das irreführenderweise immernoch mit “total umsonst” assoziiert wird, ist umso attraktiver. Ebenso irreführenderweise herrscht der Glaube vor, das mal schnell ein bisschen Verbiegen- falls nötig- sei günstiger als eine individuelle Lösung. Aber das ist eine andere Geschichte…

Wahrscheinlich ist es dann mit den Systemen selbst - sofern man sich als Kunde, als Agentur oder als Einmann/frau-Show den Markt etwas angesehen hat- nebenbei auch eine Sache der persönlichen Präferenz: Hier spricht  das Marketing mehr an, hier die Gesamtaufmachung, hier die Fülle an noch sinnloseren Gimmicks und im Idealfall natürlich die gute Programmierung, das nachhaltige Konzept und die flexible Konzeption.

Für uns “Webmacher” ein klarer Fall für die eierlegende Wollmilchsau oder alternativ einer Menge von Überzeungungsarbeit der Art “brauchen Sie das wirklich?”.  Erst, wenn wirklich individuelle Anforderungen kommen, wird es heikel, dann ist ebenso individuelle Programmierung gefragt, idealerweise auf Basis eines Frameworks, das den Werkzeugkoffer für all die Handgriffe bietet. Jedenfalls fordert das Ganze ein bisschen mehr als nur die Analyse, welches denn unter den gemästeten Säuen die fetteste ist.

Wo wir stehen

Web 2.0 heißt die Devise, an der wir überhaupt nicht mehr vorbei kommen - selbst wenn wir noch so wollten. Während der ganz normale User wie im Selbstfindungsprozess noch dabei ist, den Begriff  zu erfassen, geschweige denn für sich zu verinnerlichen, um schließlich herauszufinden, wo man denn dort überhaupt seinen Platz finden könnte, wie man dieses neue Selbstverständnis für sich nutzbar machen könnte, schießen die neuen Erfolgsmeldungen und die webzweinulligen Anwendungen wie Pilze aus dem Boden und lassen uns lechzen danach, auch mitmachen zu wollen, auch dabei sein zu wollen, -nur nichts verpassen.

Zum Schluss wird wahrscheinlich vielfach (nicht überall!) genau das passieren: die Anforderungen und Wünsche werden individueller, die Überlegungen kritischer und differenzierter und damit tut es die eierlegende Wollmilchsau eben nicht mehr, weil die zwar alles irgendwie kann, aber eben nur Mainstream.
Wir brauchen sie wirklich nicht, zumindest nicht dauerhaft, die überfrachteten Systeme, die suggerieren: Damit hätten wir es, unser totales Web 2.0, die Erfolgsgarantie im Internet, das Gefühl von Innovation und … ein bisschen Statussymbol vielleicht auch.
Nur die Nischenlösung, die ist weniger verkaufsträchtig.  Sie erfordert, dass der Käufer - in dem Fall also der Kunde- weiß, was er will und was er braucht. Auch was das später am Mehrwert bringen wird. Ich glaube, genau hier liegt die Überforderung vieler… -noch? Die individuelle Lösung noch viel mehr. Sie erfordert aber auch Feeling für die Sache, Know How, wenn es ums Web geht- und das vom Anbieter, dem “Webprofi”. Beim System mit den tausenden Super-Erweiterungen braucht es fast kein Nachdenken mehr, das flutscht ganz von allein.

Das Framework, die modulare Lösung mit ein bisschen Manufaktum Flair - sicherlich das Optimum an Qualität und für uns mehr Freude an gutem Konzept und guter Programmierung. Davor stehen Emanzipation und das Wissen um die Sache. Hier hilft wahrscheinlich wie immer vorwiegend Aufklärung. Ironie und intellektueller Touch mögen zum Problem werden, wenn sie die nicht erreichen, die bereits auf den locker flockigen glossy Zug aufgesprungen sind.

Ich bin übrigens trotz allem nicht der Meinung, dass es daher unbedingt bei jedem von uns das “Do It Yourself” CMS sein muss. Das nämlich schafft meines Erachtens vorwiegend Abhängigkeit vom Dienstleister.

Bildnachweis: nach “Feldhase” von Albrecht Dürer

 

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