Vergiss die Zielgruppe!

Zielgruppen sind ein ganz wesentlicher Aspekt, wenn es um die Usability von Websites geht - und es ist auch nicht sonderlich schwer, sich seiner Zielgruppe(n) bewusst zu werden.  Besser: es ist nicht schwer, sich ganz grob (!) seiner Zielgruppen bewusst zu werden und damit nicht nur alle irgendwie über einen Kamm zu scheren sondern auch Wesentliches zu vergessen. Die Zielgruppe: ein Konstrukt von gestern, das sich vielleicht aus Usability Sicht eignen mag, nicht jedoch, wenn es um User Experience geht?

Vergesst die Zielgruppe - denkt in Menschen! Personas: kein neues, allerdings ein viel zu wenig verbreitetes Hilfsmittel. Gerade im kleinen Projekt. Und eigentlich so ein hilfreiches…

Fehlgeleitet durch die Massen?

Der Kunde von heute ist eigentlich, und das ist ein bisschen erstaunlich, insbesondere aber erfreulich, dann doch recht gut sensibilisiert, wenn es um die Zielgruppe geht. Ein bekannter Begriff, der allerdings schnell auch zu einer oberflächlichen Betrachtung der Sache führen kann.

Mein Beispiel ist der kleine Einzelhandel, der mit neuem Internetauftritt und Onlineshop auch das Web erobern möchte. Der Besitzer kennt seine Kunden, vorwiegend Menschen aus dem direkten Einzugsgebiet mit einer Entfernung von maximal 15-20km. Zusätzlich gibt es ein paar Freunde und Bekannte, die auch von außerhalb kommen. Lauter nette Menschen, denen man gerne mal einen Kaffee anbietet. Und so hat er die dann auch vor Augen, wenn es um “die Zielgruppe” geht, neben einer recht abstrakten Gruppe potenzieller Kunden, die sich “irgendwo” befinden, aber sicher alle genauso nett und sympathisch sind wie die Käufer im realen Ladengeschäft.

Und schon sind aus Sicht des Websitebetreibers “Zielgruppen” gefunden… Ein gefährlicher Schnellschuss, denn aus dieser Denke wieder herauszukommen, wird gar nicht so einfach sein (und genau diese Überzeugungsarbeit stellt dann für den Webworker eine echte Hürde dar). In diesem Fall übrigens ein wirklicher “Killer”, denn die regionalen Kunden werden weiterhin dort einkaufen, wo sie den Kaffee, ein nettes Pläuschchen und eine “face-to-face” Beratung bekommen. Sie sind also alles andere als die Zielgruppe des späteren Onlineshops.

Ein anderes Beispiel ist die “inhomogene Zielgruppe”. Die gibt es häufig, ja eigentlich fast immer dann, wenn es sich nicht um ein Lifestyle Produkt oder Service handelt, und sie ist schwierig. Es ist daher ziemlich einfach zu sagen, hier unterteile man dann mal in “Poweruser” und “Gelegenheitsuser”, in die “Jungen” und die “Alten”, Frauen und Männer, eine Berufsgruppe und eine andere.

Ich merke daher wie ich umdenke und einige typische Usability “Konstrukte” hinterfrage beziehungsweise gedanklich erweitere. Die Zielgruppe ist eines davon, denn es ist zu allgemein und zu restriktiv. Unzureichend.  Zu wenig fassbar. Eine Frage bleibt wie immer: ist das alles realisierbar auch abseits des “großen Projekts”?

Grenzen der Zielgruppe

Eigentlich kommt man mit der Zielgruppe abseits der Usability so gar nicht recht weiter. Die Gefahr der “Zielgruppe” liegt vorwiegend in:

  • Pauschalisierung
  • geringer Berücksichtigung von “Ausreißern”
  • Beschränkung auf rein quantitativ fassbare Eigenschaften
  • wenig Blick  auf das Emotionale hinter dem Nutzerverhalten

Man “erschlägt” damit die “klassischen” Konzepte: Lesbarkeit, Schriftgröße, Design, Farbe, schlüssige Navigation, Dialogführung,… und schafft damit lediglich ein benutzbares Produkt “Website” - der letzte Kick “User Experience” wird ohne die nötige Differenzierung und den Blick auf den ganz realen Benutzer sowie sein ganz persönliches Feeling immer ein bisschen untergehen. Usability ist eine qualitative Geschichte.

Zielgruppen? Ein reines Usability Konstrukt? Vielleicht nicht ganz, alles in allem aber schlicht nicht ausreichend. Usability reduziert den Nutzer schnell mal auf Bedienung. User Experience aber ist nur zum Teil eine Frage der Usability.

Chancen von Personas

Von Usability zu User Experience also von der Zielgruppe hin zu “Personas” (auch wenn ich im praktischen Alltag mit diesem Begriff nicht so glücklich bin)? Ein Mehrwert, der nicht nur zu “besseren”, weil lebensnaheren Produkten führt sondern auch den Kunden dafür sensibilisiert, sich über seine Kunden Gedanken zu machen. Thema Empathie.

Personas sind nicht neu. Sie wurden erstmals 1998 von beschrieben und stehen für einen protoypischen User aus einer bestimmten (Ziel)gruppe von Nutzern. Der vielleicht entscheidende Unterschied zum doch recht abstrakten Modell Zielgruppe ist die Personalisierung. Personas haben Namen, ein Gesicht, vielleicht eine prototypische Biographie und ein prototypisches Benutzerverhalten. Ich glaube, es ist irrelevant, wie weit man bei der Definition von Personas gehen möchte, insbesondere ist dies auch projektabhängig. Interessant ist das Konzept, einem Benutzer ein Gesicht zu geben und damit das “sich hineinfühlen können” ein bisschen attraktiver zu gestalten und zu vereinfachen.

Während der erfahrene Webworker in Gedanken durchaus Personas konstruiert, reduzieren sich die Personas des Laien (des Kunden) oft auf reale Personen. Betriebsblindheit? Auf jeden Fall eine vertane Chance.

Personas..

  • machen aus abstrakten Usern fassbare Menschen
  • vermitteln Aktion und Verhalten
  • legen den Fokus auf Wünsche, Gefühle und Erwartungen
  • stellen Besonderheiten, “Nebenbedingungen” und Ausreißer dar

Die Persona im realen Projekt? Meine Erwartung

Gerne würde ich in einem Beispiel wie dem Onlineshop fragen: Was ist denn nun mit den potenziellen Kunden, die bisher in einem anderen Shop gekauft haben - wie erreichen wir die? oder Wie wollen wir uns derer annehmen, die eigentlich am liebsten einen Kaffee bekämen und persönliche Beratung wünschen, nur eben nicht vor Ort sind? Und wäre es nicht schön, Step by Step festzustellen, dass Persona “Tom” inzwischen voll überzeugt ist, während Persona “Steffi” immer noch nicht so recht erreicht werden kann - natürlich um sich zu überlegen, warum und im nächsten Schritt auch, was man dagegen unternehmen könnte? Und gerne bekomme ich in so einem Fall die Antwort, das kriege man dann schon irgendwie in den Griff - die Argumentation klebt viel zu sehr am eigenen, bekannten Kundenstamm oder am allgemeinen, schubladisierten Konstrukt einer viel zu allgemein gehaltenen Zielgruppe.

Liest man zu Personas, so stellt man schnell fest, dass die Entwicklung von Personas in Projekten mit dementsprechend ausgelegtem Budget ein großangelegter Prozess ist und Personas sehr detailliert ausgearbeitet werden. Allein dieses Wort “Labor” empfinde ich als eher abschreckend…Dies führt leicht dazu, sich im kleinen Projekt gegen diese Form der Benutzeranalyse zu entscheiden und seine Überlegungen auf die Zielgruppe zu reduzieren, weil es einfacher und schneller geht. Falsch!

Personas, davon erwarte ich mir, - in jeder Form von Projekt, ganz abseits vom Produkt.

  • Sensibilisierung des Kunden für positive User Experience
  • Integration des Kunden in einen User Centered Designprozess
  • eine Verbesserung des Service für den Kunden
  • Vorstellung von Usertypen  und Verhinderung eines einseitigen Blicks auf die Analogie zu realen, bekannten Personen

Es ist daher wahrscheinlich vollkommen egal, wie man das Kind nun nennen mag. Wichtig ist eine Differenzierung der Zielgruppe wie auch ein gewisser Grad an Personalisierung.

Die Frage, die sich mir aus Entwicklersicht natürlich stellt, ist die Wiederverwendbarkeit von Personas, weil es den Nutzen vor allem im “kleinen Projekt” deutlich erhöhen könnte, indem es die Kosten gering hält.

 

3 Antworten zum Beitrag “Vergiss die Zielgruppe!”

  1. am 21 Jun 09 um 17:36 meint

    Meiner Meinung nach ist das, was du schreibst, nicht richtig! Die Zielgruppe spielt auf jeden Fall eine Rolle, oder würdest du z.B. eine Broschüre für ein Altenheim im “Grunge”-Style gestalten?

  2. am 21 Jun 09 um 17:42 meint

    Anne-Kathrin

    Hallo,

    nein, natürlich nicht ;-)
    Aber impliziert das nicht auch das Persona Modell?
    Was ich damit sagen will, ist: die Reduzierung auf die Zielgruppe kann einseitig und unzureichend sein!
    “Man “erschlägt” damit die “klassischen” Konzepte: [...] und schafft damit lediglich ein benutzbares Produkt “Website” - der letzte Kick “User Experience” wird ohne die nötige Differenzierung und den Blick auf den ganz realen Benutzer sowie sein ganz persönliches Feeling immer ein bisschen untergehen. …”

  3. am 17 Nov 10 um 12:12 meint

    Michael

    Hallo,

    ich finde den Beitrag sehr anregend. Ein Projekt mit Personas
    auszugestalten dauert zwar sicherlich länger und bedarf
    Kreativität und Einfühlungsvermögen (sollte man als Gestalter
    haben ;), gibt aber dem User im endeffekt eine soweit wie
    möglich abgestimmte Website die mit Sicherheit auf mehr
    “Probleme” eingeht. Außerdem halte ich es für sehr Menschennaa.

Auch was dazu sagen?